Sonntag, 16. November 2008

Weiter Richtung Norden

Mit zwei Koffern ging es nach meiner Fortbildung in Buenos Aires weiter nach Misiones, der nordöstlichsten Provinz Argentiniens. Wie ein Dorn ragt sie aus dem Land in die beiden Nachbarländer Paraguay und Brasilien. Grenzen bilden die Flüsse Paraná, Iguazú und Uruguay. Das Klima ist subtroptisch mit warmen feuchten Sommern. Einst war die Provinz Teil des atlantischen Regenwaldes, der ursprünglich mit seiner Fläche von zwei Millionen Quadratkilometern auch große Teile von Brasilien und Paraguay bedeckte. Heute sind nur noch sieben Prozent dieses Waldes vorhanden. In den letzten Jahrzehnten fielen weite Teile verschiedensten Industrie- und Landwirtschaftsprojekten zum Opfer, so zum Beispiel dem Anbau von Eukalyptus-Monokulturen zur Papier- und Zellstoffherstellung, Tabak, Tee, Yerba und Soja… Der atlantische Regenwald beherbergt eine Fülle von Tiere und Pflanzen, deren Bestände seit Beginn der Abholzungen immer weiter zurückgehen.

Immer weiter zurückgedrängt und von ihrer Existenz bedroht werden dadurch auch die Ureinwohner dieser Gegend, die seit über 2000 Jahren dort im Einklang mit der Natur ihr Überleben sichern konnten. Die Rede ist von den Guaraní-Indianern, ein Volk von Jägern und Sammlern, die im atlantischen Regenwald einst alles zur Verfügung hatten, was sie zum leben brauchten. Dabei nahmen sie sich vom Wald und der Natur stets nur das, was sie zum Überleben brauchten, wie zum Beispiel Früchte, Wurzeln und Samen, aber auch Fisch und frisch gejagtes Wild stand einst auf dem Speiseplan. An einem Ort angekommen bauten sie solange Mais und Maniok an (denn diese wachsen relativ schnell), bis die Erde unfruchtbar wurde, und wanderten weiter, bis sie einen neuen Ort gefunden hatten. Dabei waren sie oft sehr lange unterwegs und legten unvorstellbare Entfernungen zurück. Mit der Einwanderung der Europäer veränderte sich das Leben der Guaraní, viele wurden versklavt und misshandelt. Ab 1608 kamen die ersten Jesuiten in die Region, bekehrten viele Guaraní, die fortan in den Jesuitenredukionen lebten und so der Sklaverei entkamen, bis nach vielen, teilweise auch kriegerischen Auseinandersetzungen, der spanische König die Guaraní 1767 vertreiben ließ und die Reduktionen auflöste. Die Gebäudereste dieser Reduktionen können auch heute noch bestaunt werden und wurden teilweise sogar von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt. Die Guaraní zogen sich wieder in die Wälder zurück und versuchten an die alte Kultur anzuknüpfen. Mit dem Bau der ersten Verkehrswege, der beginnenden Landrodung und der aufkommenden Landwirtschaft begann sich jedoch die Situation der Guaraní immer weiter zu verschlechtern. Heute ist die Lage des mittlerweile vom Aussterben bedrohten Volkes katastrophal. Durch die Abholzung des Waldes verlieren die Indianer jegliche Lebensgrundlage, durch den Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft werden zunehmend Flüsse und Gewässer vergiftet, das Jagen ist reduziert, sodass das Fangen eines Tieres eine seltsame Ausnahme darstellt. Die Ernährung ist mittlerweile sehr einseitig. Die Regierung hat der indigenen Bevölkerung Land zugesprochen, das unzumutbarer nicht sein kann: Kein Zugang zum Wasser, unfruchtbarer Boden, sodass der Anbau von Mais und Maniok nur eingeschränkt möglich ist. Unter- und Mangelernährung sind die Folge. Viele Infektionskrankheiten machen sich breit, Kinder husten und haben Dauerschnupfen. Die Lebenserwartung liegt bei 40 Jahren Seitens der Regierung existieren Hilfsprogramme, Initiativen und sogar Gesetze, die sich um den Erhalt der indigene Bevölkerung kümmern sollen. Die finanziellen Mittel scheinen vorhanden zu sein; leider wohl nur auf dem Papier, denn bisher erreichen sie nicht ihr Ziel. Gründe dafür gibt es viele: Schlecht oder gar nicht arbeitende Staatsdiener, Korruption und Vetternwirtschaft. Um dennoch den Schein zu waren, werden Nonsensprojekte realisiert. So sehe ich zum Beispiel beim Besuch der Guaraní, dass die Regierung jeder Siedlung eine Solarzelle zur Verfügung gestellt hat. Auf mein Nachfragen hin, wird meine Bewunderung schnell getrübt. „Das Ding bringt uns gar nichts. Erstens hat es nur zwei Wochen funktioniert und zweitens kann man damit nicht mehr als einen Ventilator anschließen“, und tatsächlich: In dem daneben stehenden Holzverschlag hängt tatsächlich an der Decke ein kleiner Ventilator.
Fortsetzung unten

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